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Gedanken, Geschichten, Hintergründe

Ethnologie  und Achtsamkeit. 
Wie passt das? 


"Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht in der Suche nach neuen Ländern, sondern im Sehen mit neuen Augen." Marcel Proust

Konditionierte Wahrnehmung

Psychologische Theorien und Erkenntnisse aus der Hirnforschung zeigen, dass unsere Wahrnehmung subjektiv konditioniert ist. Wie wir eine Situation wahrnehmen und interpretieren, hängt von ganz vielen Faktoren ab: von Kultur, Werten, biographischen Prägungen, Erwartungen, Erfahrungen, Erinnerungen, Sinnespräferenzen und unserer Tagesform. So kommt es, dass verschiedene Menschen auf dieselbe Situation unterschiedlich reagieren.

Während meinem Studium der Ethnologie (heute Sozialanthropologie) wurde aufgrund dieser Konditionierung ein besonderes Augenmerk auf das Erkennen unserer ‘kulturellen Brille’ gerichtet. Dies sollte uns unterstützen, beobachtete kulturelle Phänomene während der Feldforschung möglichst aus der Sicht der Einheimischen zu verstehen und einzuordnen. Oder uns zumindest dafür sensibilisieren, dass unsere Interpretationen von dieser konditionierten Wahrnehmung abhängig sind. Dieser ‘ethnologische Blick’ prägt bis heute meine Sicht auf das Leben. Was ist die Wahrheit? Wo sind die Grenzen zwischen richtig und falsch? Stimmt das wirklich? …

Auch die Achtsamkeitspraxis kennt diesen Blick. Dort heisst er Anfängergeist, eine Haltung des Nichtwissens. Achtsamkeit ist eine Forschungsreise ins Innere unseres Menschseins. Wir erforschen unsere Körperempfindungen, Sinneswahrnehmungen, Gefühle und Gedanken mit einer neugierigen offenen Haltung. Wir lernen die sozialisierte, kulturelle, biographische Prägung unserer Wahrnehmung zu erkennen. Dies ermöglicht, eigene lang geglaubte Wahrheiten zu hinterfragen und eingeschliffene Verhaltensmuster als veränderbar wahrzunehmen.

Das Schöne an Forschungsreisen ist, dass sie nie zu Ende sind. Man hat sozusagen nie ausgeforscht. Wenn es gelingt, uns an die Haltung des Nichtwissens zu erinnern, dann erscheint die Welt immer wieder neu und nie langweilig. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung, unsere Kategorien, zu überprüfen und neu zu interpretieren. Nichts ist fix, alles ist ständige Veränderung und wunderbar lebendig.


Tiefes Zuhören

Eine weitere Gemeinsamkeit von Ethnologie und Achtsamkeit ist tiefes Zuhören und wahrhaftiges Sprechen. Beitrag folgt.

Achtsamkeit und Kunst

Auf dem Bild der Künstlerin Xenia Hausner sehe ich Menschen, die sich aus dem Fenster eines Zugabteils neigen und Menschen auf dem Perron zuwenden. Die Situation erinnert mich an Indien. Ein Abschied. Die Menschen sehen jedoch westlich aus. Die Szene wirkt sehr dramatisch.

Ich frage, interpretiere, erinnere, ordne ein. Ich bemerke das Verlangen nach Klarheit. Nach Gewissheit. Versuche das auf dem Bild Wahrgenommene in Worte zu fassen, in Kategorien - Orte, Menschen, Situationen, Gefühle. Und doch bleibt mein Wunsch nach klarer Zuordnung in diesem Bild unbefriedigt.

Xenia Hausner sagt: «Es gibt eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit, nach Gewissheit, an der man sich orientieren kann. Das nennt man die Wahrheit. Wir leben alle mit unseren jeweiligen Annahmen der Wirklichkeit.»

In den Worten des buddhistischen Lehrers und Autors Rodney Smith kreieren wir unsere eigene Wahrheit so: «Die von uns angenommene Sichtweise erkennen wir am leichtesten anhand der Geschichte, die wir uns selbst über das erzählen, was geschieht. (…) Taucht eine Bedrohung unserer Geschichte auf, verschanzen wir uns in einer Wagenburg und die Verteidigungslinie kontrahiert sich um unsere Sichtweise. Die meisten Erfahrungen, die unsere Sicht infrage stellen, werden geleugnet, vermieden oder abgelehnt, und jene Erfahrungen, die sie bestätigen, werden eingegliedert.»

Verzweifelt halten wir uns immer wieder an Worten fest, um ein stimmiges Narrativ unserer Wahrheit zu erschaffen. Doch «…jeder Begriff gestattet uns lediglich, den von ihm beschriebenen Aspekt der Realität zu sehen, und negiert gleichzeitig jede andere mögliche Wahrnehmungsweise.» (Rodney Smith)

In der Achtsamkeitspraxis üben wir uns im Bemerken dieser Sehnsucht nach Gewissheit und hinterfragen unsere persönliche Wahrheit. Wir achten auf das, was wir in unseren Interpretationen ausschliessen und was wir eingliedern.

Xenia Hausners Bilder, allesamt sehr realistisch gemalte Fiktionen, machen es uns schwer eine stimmige Sichtweise der Wahrheit aufrecht zu erhalten. Oder wie sie sagt: «Jedes gelungene Kunstwerk lügt die Wahrheit herbei. Die gemalte, komponierte Besonderheit ist die Lüge, die die Wahrheit beschwört. Über die Fiktion der Kunst lernen wir die Welt besser verstehen. (…) Ich male erfundene Geschichten, die der Betrachter mit seinem eigenen Leben zur Deckung bringen kann.»

Weil das Bild in dem Sinne ‘lügt’, sind wir als Betrachtende gezwungen unsere gewohnheitsmässige Wahrnehmung der ‘Wirklichkeit’ in Frage zu stellen.  Wenn wir lernen, achtsam zu sein mit unserer Interpretation von dem was wir wahrnehmen, bekommen wir ein Gespür für eine umfassendere Wahrheit, die nicht unterscheidet, sondern Raum schafft für unterschiedliche Sichtweisen und somit auch neue Interpretationen unserer eigenen (Lebens-)Geschichte.

Quellen:
Xenia Hausner, 2022, Begleittext zur Ausstellung ‘True Lies’, Museum Franz Gertsch, Burgdorf.
Rodney Smith, 2011: Frei von Selbsttäuschung, Windpferd Verlag, S. 145ff.